Sonntag, 27. Dezember 2015

Eine emotionale Abrissbirne. Rezension zu Jami Attenbergs Roman "Die Middlesteins"

Im sich immer weiter ausdehnenden Universum, in dem alle Körper eigentlich voneinander wegstreben, bilden die Körper mit der größten Masse die Gravitätszentren und halten die Körper in ihrer Umgebung auf einer Umlaufbahn um sich herum.
Wir nennen das Gravitätszentrum, um das wir uns mit der Erde bewegen, Sonne. Für die Familie in Jamie Attenbergs Roman „Die Middlesteins“ bildet die Matriarchin Edie Middlestein, zweifache Mutter, zweifache Großmutter, das Gravitätszentrum ihrer Familie. Wie jedes Gravitätszentrum hat auch sie die größte Masse in ihrer familiären Umgebung. Und das ist absolut wörtlich zu verstehen. Am Ende wird Edie von ihren Freunden auf etwa hundertfünfzig Kilogramm Körpergewicht geschätzt. Schon als kleines Mädchen ist sie ungewöhnlich schwer. Aber leider nicht „knuddelig“, sondern eher wie „ein zementartiger Klops“. Die Festigkeit und Härte, an die man bei diesem Vergleich denken kann, zeigt sich auch als Charakterzug in Edies weiterem Leben. Sie scheint auf den ersten Blick eine warmherzige und verbindliche Person zu sein. Aber wenn es für sie darauf ankommt, kann sie mit einer Härte reagieren, die den Menschen um sie herum Angst einflößen kann. Eine emotionale Abrissbirne.
Im Wesentlichen entfaltet sich die Geschichte in zwei Handlungssträngen. Einerseits ein episodisches Protokoll von Edies Gewichtszuwachs von der Kindheit bis zu ihrem Tod und andererseits die Vorbereitungen zur Feier der Bar-Mizwa-Feier ihrer beiden Enkel, den Zwillingen Emily und Josh. Zu Beginn der Vorbereitungen zu dieser Bar-Mizwa-Feier hat Edie schon mehr als eine Gefäßoperation wegen ihrer Fettleibigkeit hinter sich. Die nächste ist absehbar. Aber obwohl sich ihre Gesundheit stetig verschlechtert, rückt Edie Middlestein keinen Deut von ihrer Fresssucht ab. Die Firma, in der sie als Anwältin gearbeitet hat, entlässt sie. Richard, ihr Ehemann weiß sich und seiner Frau nicht mehr zu helfen und verlässt sie. Aber was soll’s. So lange fettiges Fastfood verfügbar ist, scheint Edies Welt nach außen hin in Ordnung zu sein. Essen ist eine Flucht vor der Realität, eine vermeintliche Quelle von Trost und Geborgenheit, nicht nur für Edie. Ihre gesundheitsfanatische Schwiegertochter versucht Edie auf den rechten Pfad der Ernährung zurückführen – erfolglos. Als Richard sich nach der Trennung von seiner Frau auf Partnerschafts-Portalen nach einer neuen Lebensgefährtin umsieht, entdeckt er eine attraktive üppige Frau, ein paar Jahre jünger als er. Ihm gefällt, was er sieht. Bis er schließlich das Foto erkennt. Es ist ein Urlaubsfoto, das vor ein paar Jahren aufgenommen worden ist und ihn und seine Frau zeigt. Das heißt, mittlerweile zeigt es nur noch Edie. Sie hat den Teil des Bildes, das ihren Mann zeigt, weggeschnitten. Kein Planet kommt von seiner Umlaufbahn ab. Kein Familienmitglied kann sich von wirklich von Edie lösen.
Jami Attenberg erzählt die Geschichte aus den verschiedenen Blickwinkeln der beteiligten Personen. Das ist an sich sehr schön und lässt ein differenziertes Bild des Erzählten entstehen. Manche Doppelungen, die daraus entstehen und auch manche Ausblicke in die spätere Zukunft mancher Figuren, hemmen aber zuweilen den Schwung des Romans.
Abgesehen davon ist Jami Attenbergs Roman „Die Middlesteins“ aber ein großes Lesevergnügen, das dem Leser einen tragikomischen Einblick in das jüdische Leben in einer US-amerikanischen Vorstadt von heute gewährt. Am Ende bleibt die Hoffnung, dass sich unter der Sonne nichts ändert. Die Planeten umkreisen sie. Die Familien fallen nicht ganz auseinander, nur die Konstellation ihrer Mitglieder ändert sich. Wer sich gestern nahestand, ist morgen weit entfernt. Wer gestern unendlich weit weg erschien, ist einem morgen vielleicht näher als jeder andere. Das mag etwas Tröstliches sein.

Sonntag, 20. Dezember 2015

Michael Dansauer: Die Tribute von Panem - Mockingjay Teil 2

Am Ende ist man verheiratet, hat zwei Kinder – aber dennoch ist nichts, wie es einmal war. Der Schluss von „Die Tribute von Panem – Mockingjay Teil 2“ ist nur vordergründig kitschig. Das Gute hat nicht gesiegt, es hat überlebt. Überlebt in der Liebe zwischen Katniss Everdeen und Peeta Mellark. Und diese Liebe ist noch nicht einmal romantisch. Von Anfang an war die Beziehung der beiden ein Bündnis der Vernunft, erwachsen aus Dankbarkeit und gegenseitiger Abhängigkeit. Daraus entsteht allmählich ehrliche Zuneigung und aus dem gegenseitigen Vertrauen letztlich Liebe.
Es ist die Stärke der Reihe „Die Tribute von Panem“, dass sie mit den üblichen Rezeptionsgewohnheiten hinsichtlich Blockbustern bricht, bzw. deren Vordergründigkeit zur Schau stellt. Die augenfällige Attraktivität von Katniss Everdeen wird für die Hungerspiele herausgeputzt. Ihr wahrer Charakter scheint nur in den subversiven Details ihrer Kleidung durch. Ihr fester Charakter ist geprägt von der grauen Wirklichkeit ihres Alltags unter dem Joch der Herrschaft des Kapitols.
Im letzten der Filmreihe wird nun dieses Kapitol von den vereinigten Rebellen der dreizehn Bezirke angegriffen und schließlich besiegt. Wer darin eine Parallele zum Unabhängigkeitskrieg der dreizehn amerikanischen Kolonien gegen Großbritannien sehen will – warum nicht. Dass die siegreiche Präsidentin Alma Coin am Ende von Katniss Everdeen getötet wird, könnte man als eine Bezugnahme auf die Ermordung Abraham Lincolns am Ende des amerikanischen Bürgerkriegs sehen.
„Die Tribute von Panem – Mockingjay Teil 2“ ist meines Erachtens der beste Film einer ohnehin starken Reihe. Er ist düster, psychologisch stark und setzt auch mit klug gesetzten Action- und Horrorszenen wirkungsvolle Akzente. Wem die bisherigen Filme der Reihe gefallen haben, der darf sich hier auf einen überaus würdigen Abschluss freuen.

Trailer zum Film
Bildquelle: www.dvd-forum.at

Sonntag, 13. Dezember 2015

Judith Hermann, Aller Liebe Anfang

Was wurde sie beschimpft und belehrt von der deutschen besserwisserischen Literaturkritik aus meist männlicher Feder. Sie könne nicht schreiben, warf ihr Edo Reents von der FAZ vor. Ihr fehle „das Verständnis für die epische Dimension der Wirklichkeit“, behauptete Georg Diez im Spiegel. Judith Hermanns Roman „Aller Liebe Anfang“ hat einige Rezensenten zu Aussagen hinreißen lassen, die an Arroganz und Unverständnis nur schwer zu überbieten sind.
Worum geht es in Hermanns Roman? Eine Frau namens Stella lebt mit ihrer Tochter Ava und ihrem Mann Jason in einer ruhigen Vorortsiedlung. Ein Haus mit Garten, junges Familienglück. Stella arbeitet als Altenpflegerin, ihre Patienten leben noch in ihren eigenen Wohnungen. Jason ist Handwerker, baut Häuser und ist die meiste Zeit nicht zuhause. Diese scheinbar stabile Situation wird gestört, als ein Mann, der sich Mister Pfister nennt, Stella um ein Gespräch bittet und damit anfängt, ihr nachzustellen. Er wünscht sich verzweifelt Kontakt zu Stella, den sie ihm jedoch konsequent und zunehmend verunsichert verweigert. Diese Verunsicherung hat ihren Ursprung nicht allein in der durch den Stalker verursachten Verletzung ihrer Privatsphäre, sondern auch in dem Gefühl von einem anderen Menschen begehrt zu werden. Ein Gefühl, das Stella scheinbar bei ihrem Mann vermisst. So bricht durch Mister Pfister für Stella die Frage auf, ob sie mit ihrem Leben denn wirklich zufrieden ist. Eine beunruhigende Frage.
Der Clou des Buches ist, dass so wie Mister Pfister in Stellas Leben ungebeten eingedrungen ist, auch Stella damals in Jasons Leben eingedrungen ist, als sie ihm ihre Flugangst und ihr unausgesprochenes Betteln um Beistand aufgedrängt hat. Man könnte sagen, dass sich Stella genauso in Jasons „hineingestalkt“ hat, wie es Mister Pfister bei Stella versucht. Ist Stalking-artiges Verhalten also vielleicht wirklich „aller Liebe anfang“? Hermanns Roman scheint zumindest davon auszugehen.
Hermanns Sprache hat den gesamten Roman über etwas Unterschwelliges. Das mag zuweilen anstrengend wirken, ästhetisch sinnvoll ist es jedoch allemal. Das verunsicherte Erleben zerfällt in seine Einzelheiten. So ist es nicht verwunderlich, dass Judith Hermann dem Leser detailgenau (und dabei glänzend beobachtete) Schilderungen der Wirklichkeit, in der Stella sich bewegt, bietet.
Und deshalb muss man festhalten: Ja, Judith Hermann kann schreiben, sehr gut sogar. Und ja, sie hat die „epische Dimension der Wirklichkeit“ bestens verstanden.

Sonntag, 29. November 2015

„Bridge of Spies“ mit Tom Hanks

Wie geht man mit einem Feind um, der nicht klar hervortritt? Wie geht man, mit einem Kämpfer dieses Feindes um, wenn man seiner habhaft wird? Gelten für ihn die Gesetze, in der gleichen Art wie für uns Bedrohte?
Es sind letztlich die gleichen Fragen, denen man sich stellen muss, angesichts des Terrors heute und der Spionagepraktiken des Kalten Krieges.Steven Spielberg bringt die wahre Geschichte um den Austausch der gefangenen Spione Rudolf Abel (UdSSR), gespielt von Mark Rylance, und Francis Gary Powers (USA) auf die Leinwand. Rudolf Abel wird vom FBI enttarnt und festgenommen. Er wird der Spionage angeklagt. Als Verteidiger wird ihm der Versicherungsanwalt James Donovan, gespielt von Tom Hanks, als Verteidiger zur Seite stellt. Donovan besteht darauf, dass auch für einen feindlichen Spion die Gesetze der USA, welche jedem Angeklagten ein faires Verfahren garantieren sollen, gelten. Das sei es, was die Vereinigten Staaten von anderen Staaten positiv unterscheide. Als Francis Gary Powers während eines Spionageflugs über der UdSSR abgeschossen, verhaftet und ebenfalls verurteilt wird, erhält Donovan den Auftrag, einen Gefangenenaustausch zwischen den USA und der UdSSR auszuhandeln.
Die erste Hälfte des Filmes ist besser als die zweite. Hier erkennt man, dass es dem Film mehr als nur um eine Geschichte aus dem Kalten Krieg geht. Die eingangs gestellten Fragen, werden hier in der Figur Donovans im Sinne einer unbedingten Geltung der Rechtsstaatlichkeit beantwortet. Die Welt weiß, dass sich die USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001 für einen anderen Weg entschieden haben, wovon das Lager von Guantanamo das augenfälligste Zeugnis ist.
In der zweiten Hälfte flacht der Film leider etwas ab. Der Zuschauer sieht Donovan dabei zu, wie er versucht mit der Kälte und den unklaren Zuständigkeiten zwischen der UdSSR und der DDR in Berlin zurechtzukommen. Die DDR-Beamten reden schnarrend und wirken dumm, die Sowjets überdecken mit schmieriger Überkorrektheit, das absolut Böse, das in ihnen vermutet wird. Es ist schade, dass der Film, sich dieser Klischees bedient und kein differenzierteres Bild seiner Nebenfiguren zeichnet. Einige der Dekors in Berlin wirken zudem aufgesetzt wie eine schlechte Theaterkulisse.
Das Drehbuch von Matt Charman wurde von Ethan und Joel Coen überarbeitet, die als Autoren- und Regieteam so großartige Filme „The Big Lebowski“ oder „No Country for Old Men“ hervorgebracht haben. So haben wir nun einen Steven Spielberg-Film mit einigen Coen-Brüder-Momenten. Ein paar skurrile Figuren und Situationen, die den Film auflockern, ihm aber letztlich nicht immer dienlich sind. Einer der seltenen Spielberg-Momente findet sich gegen Schluss, als Donovan durch ein Zugfenster in New York beobachtet, wie junge Leute über Zäune, die mehrere Hinterhöfe voneinander trennen, klettern. Er erinnert sich dabei, wie er in Berlin von der S-Bahn aus beobachteten musste, wie DDR-Bürger versucht haben, die Berliner Mauer zu überwinden und dabei von Grenzern erschossen wurden. Was in New York ein Streich sein mag, endete an der Berliner Mauer tödlich.
Positiv herauszustellen bleibt die schauspielerische Qualität, mit der Tom Hanks den aufrechten und etwas biederen Anwalt Donovan darstellt. Allerdings wird er von Mark Rylance in der Rolle des Rudolf Abel noch übertroffen. Rylance verleiht seiner Figur ein erstaunliches Charisma, das bei aller Stille und Zurückhaltung umso mehr zu beeindrucken vermag.

Bildquelle: wegotthiscovered.com