Im sich immer
weiter ausdehnenden Universum, in dem alle Körper eigentlich voneinander
wegstreben, bilden die Körper mit der größten Masse die Gravitätszentren und
halten die Körper in ihrer Umgebung auf einer Umlaufbahn um sich herum.
Wir nennen das
Gravitätszentrum, um das wir uns mit der Erde bewegen, Sonne. Für die Familie in
Jamie Attenbergs Roman „Die Middlesteins“ bildet die Matriarchin Edie
Middlestein, zweifache Mutter, zweifache Großmutter, das Gravitätszentrum ihrer
Familie. Wie jedes Gravitätszentrum hat auch sie die größte Masse in ihrer
familiären Umgebung. Und das ist absolut wörtlich zu verstehen. Am Ende wird
Edie von ihren Freunden auf etwa hundertfünfzig Kilogramm Körpergewicht
geschätzt. Schon als kleines Mädchen ist sie ungewöhnlich schwer. Aber leider nicht
„knuddelig“, sondern eher wie „ein zementartiger Klops“. Die Festigkeit und
Härte, an die man bei diesem Vergleich denken kann, zeigt sich auch als
Charakterzug in Edies weiterem Leben. Sie scheint auf den ersten Blick eine
warmherzige und verbindliche Person zu sein. Aber wenn es für sie darauf
ankommt, kann sie mit einer Härte reagieren, die den Menschen um sie herum
Angst einflößen kann. Eine emotionale Abrissbirne.
Im
Wesentlichen entfaltet sich die Geschichte in zwei Handlungssträngen.
Einerseits ein episodisches Protokoll von Edies Gewichtszuwachs von der
Kindheit bis zu ihrem Tod und andererseits die Vorbereitungen zur Feier der
Bar-Mizwa-Feier ihrer beiden Enkel, den Zwillingen Emily und Josh. Zu Beginn
der Vorbereitungen zu dieser Bar-Mizwa-Feier hat Edie schon mehr als eine
Gefäßoperation wegen ihrer Fettleibigkeit hinter sich. Die nächste ist
absehbar. Aber obwohl sich ihre Gesundheit stetig verschlechtert, rückt Edie
Middlestein keinen Deut von ihrer Fresssucht ab. Die Firma, in der sie als
Anwältin gearbeitet hat, entlässt sie. Richard, ihr Ehemann weiß sich und
seiner Frau nicht mehr zu helfen und verlässt sie. Aber was soll’s. So lange
fettiges Fastfood verfügbar ist, scheint Edies Welt nach außen hin in Ordnung
zu sein. Essen ist eine Flucht vor der Realität, eine vermeintliche Quelle von
Trost und Geborgenheit, nicht nur für Edie. Ihre gesundheitsfanatische Schwiegertochter
versucht Edie auf den rechten Pfad der Ernährung zurückführen – erfolglos. Als
Richard sich nach der Trennung von seiner Frau auf Partnerschafts-Portalen nach
einer neuen Lebensgefährtin umsieht, entdeckt er eine attraktive üppige Frau,
ein paar Jahre jünger als er. Ihm gefällt, was er sieht. Bis er schließlich das
Foto erkennt. Es ist ein Urlaubsfoto, das vor ein paar Jahren aufgenommen
worden ist und ihn und seine Frau zeigt. Das heißt, mittlerweile zeigt es nur noch
Edie. Sie hat den Teil des Bildes, das ihren Mann zeigt, weggeschnitten. Kein
Planet kommt von seiner Umlaufbahn ab. Kein Familienmitglied kann sich von
wirklich von Edie lösen.
Jami Attenberg
erzählt die Geschichte aus den verschiedenen Blickwinkeln der beteiligten
Personen. Das ist an sich sehr schön und lässt ein differenziertes Bild des
Erzählten entstehen. Manche Doppelungen, die daraus entstehen und auch manche
Ausblicke in die spätere Zukunft mancher Figuren, hemmen aber zuweilen den
Schwung des Romans.
Abgesehen
davon ist Jami Attenbergs Roman „Die Middlesteins“ aber ein großes
Lesevergnügen, das dem Leser einen tragikomischen Einblick in das jüdische
Leben in einer US-amerikanischen Vorstadt von heute gewährt. Am Ende bleibt die
Hoffnung, dass sich unter der Sonne nichts ändert. Die Planeten umkreisen sie.
Die Familien fallen nicht ganz auseinander, nur die Konstellation ihrer
Mitglieder ändert sich. Wer sich gestern nahestand, ist morgen weit entfernt. Wer
gestern unendlich weit weg erschien, ist einem morgen vielleicht näher als
jeder andere. Das mag etwas Tröstliches sein.